Was sagt der Sprachverständnis-Index aus der WISC-V über die sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes aus?
- 29.06.2020
Die Sprache ist ein wichtiges Mittel, um Emotionen, Gedanken und Bedürfnisse auszudrücken sowie am gesellschaftlichen Leben durch Kommunikation teilnehmen zu können. Sprachkenntnisse sind auch von grundlegender Bedeutung, um Wissen, Vernunft und logisches Denken auf der Grundlage zuvor erworbener Kenntnisse zu sammeln bzw. anzuwenden. Bei Kindern und Jugendlichen mit Sprachschwierigkeiten besteht daher ein großes Risiko, dass sie sich nicht in der gleichen Geschwindigkeit wie Gleichaltrige entwickeln können.
Um das Entwicklungsniveau der sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes herausfinden zu können und eine angemessene Förderung anbieten zu können, ist es sinnvoll, ein standardisiertes Testverfahren einzusetzen. In diesem Artikel werden wir uns damit befassen, welchen Beitrag die WISC-V dazu leisten kann. Wir werden auch die Grenzen der WISC-V diskutieren und in welcher Weise sie kein vollständiges Bild bei Sprachschwierigkeiten liefert.
Was wird mit dem Sprachverständnis-Index gemessen?
Die WISC-V liefert einen kombinierten Gesamtwert – den Gesamt-IQ –, der die allgemeinen Fähigkeiten eines Kindes widerspiegelt. Dieser gibt wichtige Informationen darüber, ob die Sprachfähigkeiten eines Kindes mit seinen kognitiven Fähigkeiten übereinstimmen oder ob die Sprachfähigkeit eine relative Schwäche ist. Neben des Gesamt-IQs verfügt die WISC-V über fünf primäre Indexwerte, den sogenannten primären Indizes. Zusammen mit dem Gesamt-IQ ermöglichen die primären Indizes eine umfassende Bewertung des kognitiven Leistungsniveaus eines Kindes in verschiedenen Bereichen. Sollte ein Verdacht bestehen, dass ein Kind sprachliche Schwierigkeiten aufweist, sollte insbesondere der Sprachverständnis-Index genauer betrachtet werden.
Der Sprachverständnis-Index besteht aus den Untertests Gemeinsamkeiten finden und Wortschatz-Test. Der Wortschatz-Test wurde entwickelt, um das Wortwissen, die Lernfähigkeit und die sprachliche Ausdrucksfähigkeit zu erfassen, während der Untertest Gemeinsamkeiten finden die sprachliche Konzeptbildung, die kognitive Flexibilität sowie das abstrakte Schlussfolgern beurteilen soll. Das Kind muss daher ein gutes auditives Verständnis mitbringen, sowie sprachliche Konzepte begründen oder Gedanken und Ideen verbal vermitteln können, um in diesem Index eine hohe Punktzahl zu erreichen. Mit dem Sprachverständnis-Index können darüber hinaus Aussagen über das Langzeitgedächtnis getroffen werden. Die Aufgaben wurden so entwickelt, dass das Kind in der Lage sein muss, zuvor erlerntes Wissen abzurufen und anwenden zu können. Wenn das Kind einen reichen Wortschatz besitzt, wird ihm abstraktes Denken leichter als anderen fallen und von einem effizienteren Denkprozess profitieren.
Eine niedrige Punktzahl beim Sprachverständnis-Index kann auf Sprachschwierigkeiten, auf einen geringen Wortschatz, auf Probleme beim Abrufen bereits erworbener Kenntnisse und/oder auf Ausdrucksschwierigkeiten hinweisen. Unterschiede bei den beiden Untertests im Index können Informationen über relative Stärken und Schwächen liefern. Beispielsweise weist eine höhere Punktzahl beim Untertest Gemeinsamkeiten finden auf eine Stärke in der Fähigkeit zum abstrakten Denken und kognitiver Flexibilität, aber auf einen geringen Wortschatz hin. Niedrige Werte beim Sprachverständnis-Index in Kombination mit niedrigen Werten bei anderen Indizes können auf eine allgemein niedrige kognitive Fähigkeit hinweisen.
Beim Verdacht von Sprachschwierigkeiten kann es auch interessant sein zu untersuchen, ob es einen signifikanten Unterschied zwischen dem Gesamt-IQ und dem sekundären Index Nonverbaler Index gibt. Der Nonverbale Index besteht aus den Untertest der WISC-V, die eher weniger Sprachfähigkeit verlangen und mit nonverbalen Aufgaben die Fähigkeit zur Problemlösung und Verarbeitungsgeschwindigkeit messen sollen. Bei einigen Arten von Sprachschwierigkeiten kann der Nonverbale Index eine relative Stärke darstellen. Es ist jedoch wichtig zu bedenken, dass die Aufgaben im Nonverbalen Index auch einige verbale Fähigkeiten erfordern, da alle Anweisungen mündlich vom Testleiter gegeben werden.
Grenzen des Sprachverständnis-Index
Obwohl die WISC-V die kognitive Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen bewerten und wichtige Informationen beim Verdacht von Sprachschwierigkeiten liefern kann, ist es wichtig zu bedenken, dass das Testverfahren nicht in erster Linie auf die Bewertung oder Differentialdiagnose von Sprachschwierigkeiten ausgerichtet ist. Das Testinstrument bietet beispielsweise keine Grundlage zur Beurteilung grammatikalischer oder phonologischer Fähigkeiten. Darüber hinaus ist es möglich, bei vielen der verbalen Aufgaben eine vollständige Punktzahl zu erhalten, ohne die richtige Grammatik zu verwenden oder die Wörter richtig auszusprechen. Kinder und Jugendliche mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten müssen keine relative Schwäche bei der Verwendung des Sprachverständnis-Index aufweisen, da die Aufgaben mündlich beantwortet werden. Daher sollte ein möglicher Verdacht auf Legasthenie weiterhin berücksichtigt werden, auch wenn Testungen mit der WISC-V keine direkten Indikatoren geliefert haben.
WISC-V-Testungen allein unterscheiden nicht zwischen möglichen Ursachen von Sprachschwierigkeiten. Beispielsweise können Probleme mit dem Wortschatz auf viele andere Faktoren als allgemeine Fehler in Exekutivfunktionen zurückzuführen sein, wie beispielsweise eingeschränktes Vokabular oder unvollständige Darstellung eines Wortes (Klang und Inhalt). Die Sprache ist komplex und besteht aus verschiedenen Teilen, die voneinander abhängig sind und detaillierter abgebildet werden sollten, um die Stärken und Schwächen eines Kindes herauszufinden. Wenn nach Testungen mit der WISC-V ein Grund für den Verdacht von Sprachschwierigkeiten besteht, sollte die Sprachfähigkeit des Kindes in Zusammenarbeit mit einem/r LogopädIn oder SprachtherapeutIn genauer untersucht werden. Testverfahren wie beispielsweise die CELF-5 oder PPVT-4 geben Auskunft über die sprachliche Ausdrucksfähigkeit eines Kindes.
Es ist auch wichtig, sich ein Bild von der Fähigkeit zu machen, wie die Sprache in sozialer Interaktion und im alltäglichen Kontext, d. h. die pragmatische Fähigkeit, angewendet wird. Informationen über pragmatische Fähigkeit können durch andere Testverfahren ergänzt werden.
Schließlich können wir feststellen, dass der Sprachverständnis-Index ein wichtiges Mittel ist, ein Gesamtbild über das erworbene Wissen und der Fähigkeit des Kindes zur Konzeptbildung zu erhalten. Um allerdings ein differenzierteres und detaillierteres Bild von der sprachlichen Fähigkeit eines Kindes oder eines Jugendlichen zu erhalten, ist es notwendig, andere Testverfahren ergänzend einzusetzen.
Autorinnen:
Emma Sjöström, Psychologin und Test Consultant bei Pearson Clinical Assessment in Schweden
Joanna Olsson, Sprachpathologin